Transformation des Innen
# Selbstbewusst führen
Transformationsprozesse erfolgreich zu gestalten, eine offene und innovationsfreudige Unternehmenskultur zu schaffen und Sinn zu stiften, wie wir es in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben haben, sind für moderne digital ausgerichtete Unternehmen nicht nur fundamental. Dies verlangt auch nach einem hohen Maß an Selbstbewusstsein.
Selbstbewusstsein, wie wir es verstehen, bedeutet allerdings etwas ganz anderes als dominantes Managementgehabe und das Kommunizieren von Macht und Stärke, die das Managementhandeln heute leider immer noch dominieren.
Selbstbewusstsein, darunter verstehen wir vor allem die bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten als Führungskraft, mit den eigenen Wirkungen auf Mitarbeiter, Investoren, Kunden und sonstige Stakeholder und den dahinterliegenden tieferen Mustern.
# Selbsttäuschungen überwinden
Auch Führungskräfte täuschen sich immer wieder im Hinblick auf ihre eigenen Wahrnehmungen und müssen erkennen, dass ihre eigenen Wahrnehmungen bei Weitem nicht immer nicht mit denen ihrer Managementkollegen, Mitarbeiter, Kunden oder auch der Medien übereinstimmen.
Das gilt beispielsweise dann, wenn sich Management-Board-Mitglieder nach erfolgreicher Einführung einer Neuerung rückblickend selbst als Befürworter, gar Förderer wahrnehmen, obwohl sie im Vorfeld tatsächlich eher Kritiker oder Bremser waren. Dieses Phänomen nennt sich Rückschaufehler (hindsight bias) und beruht auf der Unfähigkeit vieler Führungskräfte, Überzeugungen und Wissensstände, die sich zwischenzeitlich verändert haben, noch in der ursprünglichen Version zu rekonstruieren.
Das ist dann wie eine geänderte Software-Datei, deren ältere Version sich nicht mehr herstellen lässt. So ist es auch zu erklären, dass Manager auch solche Erfolge, die eigentlich auf glückliche Umstände oder z.B. die Maßnahmen des Vorgängers zurückzuführen sind, sich selbst zuschreiben.
Eine weitere Täuschung ist der Hang von Menschen, aus den vielen bruchstückhaften Situationen eine stimmige Geschichte zu formen, die Sinn ergibt. Damit die Story rückblickend jedoch einen Sinn ergibt, werden verbindende Elemente hinzuerfunden bzw. störende oder gar widersprüchliche Details ausgeblendet (story bias).
Diese beiden kognitiven Täuschungen halten sich nicht nur hartnäckig, sie sind uns Menschen nicht bewusst. Das führt zur Illusion, die Vergangenheit verstanden zu haben und zu der noch viel verlockenderen und gefährlicheren Illusion, man könne die Zukunft vorhersagen.
Doch auch in konkreten aktuellen Situationen (also nicht nur im Rückblick auf die Vergangenheit) gibt es viele Möglichkeiten, einer Täuschung aufzusitzen: Die meisten Menschen jedenfalls halten das Bild, das ihre Sinne von der jeweiligen Situation zeichnen, für wahr. Tatsächlich ist die Bedeutung, die wir den Dingen geben, unsere Wahrnehmung nicht nur von Mensch zu Mensch, völlig unterschiedlich, sondern auch noch von Moment zu Moment.
Je nachdem, worauf wir uns fokussieren, nehmen wir Situationen völlig unterschiedlich wahr. So wie jedes Auge aufgrund der Perspektive ein etwas anderes Bild aufnimmt, das im Gehirn zu einem Bild zusammengesetzt wird, konstruiert jeder von uns im Gehirn aus all seinen Sinneseindrücken ein Bild.
Hierzu ein simples Beispiel: Schon bei dem scheinbar simplen Wort HAUS hat jeder von uns ein anderes Bild, ein anderes Konzept im Kopf. Manch einer denkt an ein Giebelhäuschen am Waldrand. Ein anderer denkt an einen Bungalow von Mies van der Rohe und ein dritter an ein Hochhaus aus Stahl und Beton.
Auch digitale Konzepte wie das „Smart Home“ geben nicht unbedingt eindeutige Wahrnehmungsmuster vor. Der eine versteht darunter ein mit der neuesten Unterhaltungs- und Convenience-Technologie ausgestattetes Zukunftshaus, ein anderer ein Nullenergiehaus mit begrünten Fassaden und intelligenter Wasserkühlung.
# Eine Frage des Framings
Die Framing-Theorie zeigt, dass häufig geringfügige Änderungen einer Situation und darüber verfügbare Informationen ausreichen, um zu grundsätzlich anderen Urteilen zu gelangen. Um noch einmal das Beispiel „Smart Home“ zu verwenden: Es ist davon auszugehen, dass die Assoziationen hierzu gänzlich anders ausfallen, wenn man erfährt, dass etwa Greenpeace den Bau eines solchen Hauses plant im Gegensatz zu etwa der Deutschen Telekom oder gar Tesla.
Auch wenn es um das eigene Ich geht, neigen wir zu solchen Framing-Effekten. Aus dem Bedürfnis heraus, uns selbst im eigenen Ich bestärkt zu sehen, führt dies u.a. dazu, dass wir uns gern etwas darüber vormachen, wie wir von außen wahrgenommen werden.
„Auch Führungskräfte machen sich gern etwas vor, wenn es darum geht, wie sie von außen wahrgenommen werden.“ d.lead
Hierzu ein Beispiel: Im August 2013 wird in der ZEIT der ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger zitiert, der damals selbstkritisch feststellte „... in den jährlichen Bewertungen der Führungskräfte stand, das 95% für die Zukunft gut oder ideal befähigt seien ...“
Er nannte das „Gefälligkeitsbewertungen“, die aber nicht ehrlichen seien und mit denen man den Managern die Chance genommen habe, sich zu entwickeln.
Als Konsequenz daraus wurden Assessments durch externe Experten eingeführt. Die Reaktionen darauf waren unterschiedlich, er schildert in dem Artikel den Fall eines potenziellen Nachwuchskandidaten für den Vorstand:
„Eine Führungskraft kam zu mir, das Gutachten in der Hand, ganze Passagen waren gelb angestrichen. Er war richtig in Rage. Was dort stehe, sei nicht wahr, sagte er. Da habe ich ihm geantwortet, dass wir das Gutachten zuvor im Vorstand diskutiert hätten und dass das, was da drinstehe, die einhellige Meinung sei. Alle hatten so über ihn geredet, aber keiner hatte es ihm gesagt. Jetzt kann der Mann sich weiterentwickeln. Schwächen sind kein Problem, wenn man bereit ist, an ihnen zu arbeiten.“ (Heinrich Hiesinger).
Wie kommt es zu einer solchen Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung?
# Raus aus der inneren Höhle
Sokrates hat mit seinem Höhlengleichnis den beiden Brüdern Platons, Glaukon und Adeimantos, zu erklären versucht, dass das, was die meisten Menschen für wahr halten, nur ihre individuelle Wahrnehmung ist. Ähnlich wie in dem Gleichnis sind sich die meisten Menschen nicht bewusst, dass sie noch in der Höhle sitzen und dass sie – wenn sie die Möglichkeit dazu hätten – aus dieser auch nicht befreit werden wollten. Das hat unterschiedliche Gründe, einer ist mit Sicherheit, dass die Zwillingsschwester der Erkenntnis die Handlung ist, die mitunter Angst macht. Da bleiben die meisten dann doch lieber in ihrer komfortablen Höhle.
Abb. 10: Die Bedeutung der richtigen Eigenwahrnehmung für eine erfolgreiche Führung (© aergon)
Wenn ich also verstanden habe, dass es keine universelle Wahrheit gibt, sondern nur individuelle Wahrnehmungen, können wir noch einen Schritt weitergehen. Wie im Höhlengleichnis lösen Wahrnehmungen auch unterschiedliche innere und in der Folge auch äußere Reaktionen aus. In genau derselben Situation.
Ein kleines Beispiel hierzu: In einem umfassenden Transformationsprozess, den wir begleiten durften, erhielt eine Führungskraft während ihres Urlaubs – quasi im Strandkorb – die Nachricht, dass es aufgrund einer Umstrukturierung bereits vier Wochen später ihren bisherigen Job nicht mehr geben wird.
Es gab zu diesem Zeitpunkt auch noch keine Zusage einer Alternative innerhalb des Unternehmens, geschweige denn am bisherigen Standort. Ein Familienvater Anfang 50, das Haus noch nicht abbezahlt, zwei Kinder noch im Studium. Was wäre Ihre erste innere Reaktion auf diese Nachricht? Und die zweite? Und die Ihrer Mitarbeiter und Kollegen?
Seine Reaktion war überraschend und beeindruckend zugleich, denn er hat sich gefreut und war gespannt. Da er Veränderungen liebt (Wert), war er erleichtert über die Veränderung, denn er hatte sich schon gelangweilt und dachte bereits selbst darüber nach, eine Veränderung herbeizuführen.
Außerdem war er davon überzeugt, wo und wie auch immer, sehr schnell etwas Neues zu finden (Glaubenssatz) und hat beim Stichwort Veränderung sofort neugierig und interessiert reagiert (äußere Reaktion). Somit waren seine innere (nicht sichtbar) und seine äußere Reaktion (sichtbar) in der gleichen Situation ganz anders als bei vielen anderen Betroffenen. Er wirkte entspannt und konstruktiv, hatte Vertrauen in sich und das Unternehmen, was sich übrigens ausgezahlt hat. Im nächsten Workshop konnte er bereits strahlend von seinem neuen Job berichtet.
„Die innere mentale Software, mein Betriebssystem, bestimmt nicht nur die Art, wie ich als Führungskraft Dinge wahrnehme, sondern auch wie ich darauf reagiere.“ d.lead
Da dieser innere Prozess der Wahrnehmung jedoch so schnell und quasi unsichtbar arbeitet, halten wir die innere Reaktion – bei uns persönlich, wie auch die kollektive, innerhalb des Unternehmens – für universell und die äußere Reaktion ebenfalls für nur folgerichtig. Es fühlt sich wie ein Naturgesetz an, dabei ist es nur das Ergebnis eines ganz individuellen mentalen Systems. Das ist irgendwann einmal programmiert worden, somit kann es auch neu programmiert werden. Das geht jedoch nicht über Nacht, sondern bedarf eines intensiven inneren Transformationsprozesses.
Wer sich solchen Veränderungsprozessen nicht öffnet, verharrt oft in alten Denkschemata, z.B. bei Nichterfolg, bei denen die Verantwortung den äußeren Umständen zugeschrieben wird. Wie schon an vielen Stellen in diesem Werk geschildert, werden neue Tools, neue Strategien gesucht, die dann – oh Wunder – doch wieder nicht greifen.
Solange sie ihr mentales System nicht ändern bzw. überhaupt erst einmal begreifen, dass sie eins haben, werden sie immer wieder die gleiche Wahrnehmung von Situationen haben und auch immer wieder die gleichen Schlüsse daraus ziehen und die gleichen Maßnahmen ergreifen. Wie der bereits zitierte Paul Watzlawick einst sagte „Wer einen Hammer hat, für den sieht alles wie ein Nagel aus“.
# Rote Zitronen
Auch wenn eine Zitrone eine rote Schale erhält und vollmundig zur Tomate erklärt wird, ist sie im Kern eben immer noch eine Zitrone. Wenn sie gepresst wird, tritt Zitronensaft aus und kein Tomatensaft. Logisch.
In den vorherigen Kapiteln haben wir immer wieder die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit beschrieben, die Versuche sich mit digitalen Statussymbolen sowie Beteuerungen und Parolen nach außen als digital zu präsentieren.
Damit die Digitalisierung gelingt, ist aber deutlich mehr als nur rote Turnschuhe oder Kicker-Tische erforderlich, man braucht nicht jede Woche eine neue Strategie oder ständig neue Management-Tools. Die Versuche, Lösungen im Außen zu finden, werden häufig mit viel Getöse initiiert und scheitern dann doch – das Scheitern geht dann allerdings meist deutlich leiser vonstatten. Wie Albert Einstein einst sagte: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und ein anderes Ergebnis zu erwarten.“
Um die digitale Transformation zum Erfolg zu führen, ist vielmehr eine „Leadership Transformation“ erforderlich, die nicht nur im Inneren der Organisation beginnt, sondern im Inneren der Menschen selbst.
# Aufgestellte Nackenhaare
Beim Thema Veränderung des Innen im Sinne einer Entwicklung der eigenen Person stellen sich den meisten Managern allerdings die Nackenhaare hoch. „Psychokram“, „Softskill-Quatsch“, „Befindlichkeitsgetöse“, so lauten Urteile nicht weniger Manager, wenn man sie mit diesem Thema konfrontiert. Dahinter stecken vor allem sozialisationsbedingte Reaktanzen, sind doch die meisten der männlichen und weiblichen Führungskräfte von heute damit sozialisiert worden, dass man im Management vor allem eines sein muss: ein harter Kerl.
Und doch wissen wir längst, dass unserer Verhalten, besonders die Interaktion mit anderen, die Kommunikation, eine Art Armaturenbrett unserer inneren Welt ist. Führungskräfte sollten daher gerade in Zeiten erhöhter Transformationsanforderungen ihre Scheu vor der Auseinandersetzung mit ihrem Inneren überwinden.
„Führungskräfte müssen die äußeren Transformationen mit der inneren Transformation beginnen: inside-out.“ d.lead
Welche Bedürfnisse und Ängste wir haben, was wir über uns selbst und die Welt, unser Unternehmen, unsere Mitmenschen denken, wie wir uns fühlen, was uns wichtig ist, was wir wahrnehmen, ist ein ganz individueller Steuerkreis, der in uns arbeitet und sich in unserem Verhalten manifestiert.
# Inside-out und outside-in
Sicher gibt es auch eine Wirkung von außen nach innen, die wir unterstützend nutzen können: Die deutsche Fotografin Herlinde Koelbl hat vier Jahre lang in Deutschland und acht weiteren Ländern Menschen unterschiedlicher Berufsgruppen in Uniform und privat fotografiert. Ob Astronauten, Bischöfe, Butler, Clowns oder Schornsteinfeger. Daraus sind 2012 die Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum Dresden und das gleichnamige Buch „Kleider machen Leute“ entstanden. In dieser Fotoserie hat Herlinde Koelbl erforscht, was die unterschiedlichen „Uniformen“ aus Menschen machen:
„Ich trage meine Uniform gerne und bin auch stolz darauf. Man schlüpft in die Rolle des Kapitäns und strahlt automatisch Autorität aus. Man spürt den Respekt, aber auch die Verantwortung. Beides gehört zu meinem Berufsbild,“ zitiert sie einen Lufthansa-Kapitän und bemerkt dazu: „Nun sticht er heraus aus der Masse der grau-dunkel gekleideten Menschen. Wenn er nach den Passagieren aus dem Flugzeug steigt, ist er durch seine schmucke Uniform, die seine Stellung ausdrückt, etwas Besonderes. Er bewegt sich anders. Die Uniform verleiht ihm ein anderes Körpergefühl und Stolz, er ist selbstsicherer, eine Respektsperson.“
So können die vielzitierten offenen Hemdkrägen, Turnschuhe und das Du den Führungskräften vielleicht den Weg zeigen, sich in das innere Zielbild des lässigen, nahbaren Managers zu bewegen, welches der eine oder andere von sich hat. Doch der Weg selbst ist damit noch nicht gegangen.
# Update der Führungskräfte-Software
Erstaunlich ist, dass vor allem diejenigen Führungskräfte, die sich eher schwertun, sich mit dem eigenen Inneren auseinanderzusetzen, ihr inneres Programm ähnlich wie die Schuhgröße oder Haarfarbe für gegeben, für unveränderlich halten. So bin ich nun mal. Oder, um mit Martin Luther zu sprechen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“
Die individuelle Persönlichkeit grundsätzlich zu verändern ist sicher nicht möglich. Das sollte auch nicht die Zielsetzung sein. Doch die Software, die unsere physische Hardware erst zum Leben erweckt, lässt sich durchaus updaten, um sie an die Anforderungen von morgen anzupassen.
„Was wir in digitalen Zeiten dringend brauchen, ist ein Update der Führungskräfte-Software.“ d.lead
Wo Manager im IT-Bereich ganz selbstverständlich regelmäßig eine Menge Geld und Zeit investieren, um die Hard- und Software ihres Unternehmens auf den aktuellen Stand zu bringen, bewegen sich viele bei ihrer eigenen, persönlichen Software noch in einer MS-DOS-Welt. Jeder, der umfangreiche Software-Migrationen in seinem Unternehmen erlebt hat, der sich mit Beta-Versionen herumgeschlagen hat, weiß, dass es viel Zeit und Energie kostet, bis das System einigermaßen stabil läuft.
Doch auch dieser Zustand ist eher temporär, denn die Anforderungen ändern sich ständig. Es vergeht kein Tag, an dem nicht mindestens eine App unseres iPhones ein Update anbietet, um Fehler zu korrigieren, besser und stabiler zu laufen oder sogar mit deutlich besseren Features aufzuwarten. Warum sollten wir das nicht auch mit unserer menschlichen Führungskräfte-Software genauso handhaben?
# Auffrischung der mentalen Betriebssysteme
Hat man verstanden, dass es in jedem Menschen so etwas wie ein persönliches Betriebssystem – unser mentales Systems – gibt, das unsere Anwendungsprogramme, unsere Wahrnehmung und unser Verhalten steuert, die Art, wie wir kommunizieren, dann stellt sich ganz unweigerlich eine andere Frage: Wie stellt man als Manager sicher, dass bei uns selbst und bei unseren Mitarbeitern die mentalen Betriebssysteme immer auf dem aktuellsten Stand sind, damit die neuen Skills, die neuen Anwendungsprogramme, die Apps überhaupt laufen können?
Die wichtigste Voraussetzung hierfür ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Die wiederum setzt den Willen voraus, sich mit dem eigenen Selbst überhaupt auseinandersetzen zu wollen.
Gerade im Topmanagement gibt es viele Betriebswirte, Ingenieure und Juristen, die eine hohe Affinität zu Zahlen, Daten und Fakten haben und Persönlichkeitsthemen eher verdrängen. Dahinter steckt nicht selten eine versteckte Angst, nämlich die vor Schwäche.
# Die Bedeutung des eigenen Egos
Selbstverständlich brauchen Führungskräfte ein starkes Ich – es ist der Antrieb, um sich aus der Gruppe abzuheben und auch, um die Rolle eines Anführers, einer Anführerin zu übernehmen, die man selbst in digitalen Umfeldern immer braucht.
Die Fokussierung auf einen eigenen „inneren Bezugsrahmen“, wie der US-amerikanische Psychologe Carl Rogers es einst nannte, sich selbst als Ausgangspunkt der Wahrnehmung zu verstehen, macht also durchaus Sinn, wenn man eigene Ideen und Ziele umsetzen will.
In den meisten digitalen Transformationsprojekten geht es jedoch nicht nur einfach um die Umsetzung „eigener“ Ideen und Ziele. Es geht um gemeinsam abzustimmende Ideen und Ziele, ohne die Digitalisierung nicht gelingen kann.
Hinzu kommt, dass das Ego bei vielen Führungskräften vom Diener zum Herren geworden ist: Sie sehen die Welt nur noch aus ihrer eigenen Perspektive. Es geht um eigene Ziele, Bedürfnisse und auch um eigene Ängste. Doch leider läuft dies meist unter der eigenen bewussten Wahrnehmungsschwelle ab. Sie wissen also gar nicht, was sie nicht wissen. Kommt zusätzlich noch Stress hinzu, dann führt dieser Stress (wie wir an anderer Stelle bereits dargelegt haben) dazu, dass sich die bewusste Wahrnehmungsschwelle erhöht.
# Angst fressen Seele auf
Ängste gibt es im Management tatsächlich zuhauf. Dazu zählt z.B. die Angst, vom großen Kuchen nicht genug abzubekommen. Obwohl viele Topmanager bereits längst ihre Schäfchen im Trockenen haben, wird um Positionen, Gehälter und Boni gekämpft, als hinge davon die eigene Existenz ab. Um die eigene Machtposition abzusichern, wird viel Politik gemacht. Das eigentliche Business gerät dabei leider nicht selten in den Hintergrund.
Das kostet die Unternehmen wertvolle Ressourcen, Zeit, Geld und nicht zuletzt wichtige Mitarbeiter, die irgendwann genervt das Handtuch werfen, weil in ihren Unternehmen ein Klima des Misstrauens herrscht, Pfründe gesichert werden und das zulasten notwendiger Innovationen oder der Entwicklung von Mitarbeitern geht.
„Angst ist nicht nur bei Mitarbeitern, sondern auch bei Führungskräften die Ursache großer Wertevernichtung in Unternehmen.“ d.lead
Auch die Angst vieler Führungskräfte, nicht gemocht zu werden, verhindert häufig effektive Veränderungen. Wir alle mögen es gern, wenn uns Menschen zugetan sind, uns bewundern, unsere Nähe suchen. Wenn durch dieses Bedürfnis nach Anerkennung Entscheidungen jedoch fehlgeleitet werden, Fakten verschwiegen, geschönt oder Tatsachen schlicht verdreht werden, ist dies natürlich kontraproduktiv.
Hinzu kommt auch bei vielen Führungskräften zunehmend die Sorge, den ständigen Anforderungen des Neuen selbst nicht mehr gerecht werden zu können. Selbst gestandene Führungskräfte kommen in Zeiten der Digitalisierung hierbei nicht selten an ihre ganz persönlichen Grenzen.
Dem von Laurence J. Peter formulierten Peter-Prinzip zufolge besteht in Organisationen ja immer das Risiko, dass jedes Mitglied in komplexen Hierarchien so lange befördert wird, bis er das höchste Maß persönlicher Inkompetenz erreicht hat. Ab dann ist ein Manager nur noch mit dem Erhalt seines Status und Macht beschäftigt. Selbst wenn die nächste Ebene „trotzdem“ noch für gute Ergebnisse sorgt, mutieren Führungskräfte aus Angst vor Machtverlusten häufig selbst zu Innovationsbremsen. Sie verfolgen dann, häufig unbewusst, eine Taktik, die wir in Anlehnung an die Zoologie „Management-Infantizid“ nennen: Der eigene Nachwuchs wird „totgebissen“, also demotiviert, abgekanzelt, mundtot gemacht, statt diesen aktiv zu fördern.
Interessanterweise führen oft gerade die arriviertesten Führungskräfte, die es von außen betrachtet am wenigsten nötig hätten und die auf lange erfolgreiche Jahre und viel Erfahrung zurückblicken können, ein regelrechtes Affentheater auf, um ihre Machtposition abzusichern.
Auch der italienische Tenor Luciano Pavarotti blieb davon nicht verschont: Das Magazin FOCUS berichtet in seiner Ausgabe 14/2002: „Erst schwand die Stimme, nun verliert Startenor Luciano Pavarotti, 66, auch seine Anziehungskraft an der Kasse. In Vancouver sagte er jetzt ein Konzert ab, weil nicht mal ein Viertel der bis zu 300 Euro teuren Karten verkauft worden war.
An der New Yorker Met singt der Weltstar nächste Saison auch nicht mehr – erstmals seit 33 Jahren. Im Dezember hatte ihn das Publikum in Shanghai ausgepfiffen, weil er das hohe C nicht schaffte. Ans Aufhören denkt Pavarotti dennoch nicht: Ich weiß, wann meine Stimme reif für den Ruhestand ist.“
Psychologisch ist das leicht zu erklären: Der Wunsch nach Anerkennung muss ständig genährt werden und die Angst, vielleicht doch zu wenig Selbstvertrauen, Erfolg oder Autorität zu besitzen, um das Bedürfnis nach Selbstwert zu befriedigen, können ein großer Antreiber sein. Gerade die Kompensation dieser Ängste, die Überwindung der Gefühle der Unzulänglichkeit, wirkt wie ein Katalysator, der oft die notwendige Kraft verleiht, beispielhafte Karrieren zu machen.
Man könnte meinen, sobald die Karriere die gewünschte Flughöhe erreicht hat, müsste es möglich sein, den eigenen Modus endlich einmal umzuschalten und das innerlich Getriebene in einen gesunden inneren Antrieb zu verwandeln. Schließlich ist es heute etwas ganz anderes, was Mitarbeiter von ihren Führungskräften erwarten, als Autorität und Machtbewusstsein.
- Sie wollen Chefs, die zuhören können, statt immer nur selbst zu reden.
- Sie wollen Führungskräfte, die Fakten objektiv abwägen, statt nach Gutsherrenart zu entscheiden.
- Und sie wollen Chefs, die zwar klare Orientierungen geben, ihnen bei der Umsetzung aber auch Freiräume einräumen und nicht ständig dazwischen grätschen.
Ohne die Fähigkeit, den Bezugsrahmen anderer in die Betrachtung einzubinden, also empathisch zu sein, ist die Selbstverortung potenziell fehlerhaft und die Beziehungsgestaltung schwierig.
Aus den Reaktionen anderer einen Wirkungskreislauf ablesen zu können, statt die anderen als falsch in ihrer Wahrnehmung und Handlung zu beurteilen, ist eine der wichtigen Fähigkeiten im Umgang mit Menschen. Und der Umgang mit Menschen ist die vornehmliche Aufgabe einer jeden Führungskraft.
# Wer in der zweiten Halbzeit noch immer in die gleiche Richtung spielt, macht ein Eigentor (Boris Grundl)
Wer nicht reflektiert, sich keine Feedbacks einholt und annimmt, wer sich von seinem Ego, seinen Ängsten leiten lässt, riskiert irgendwann eine verzerrte Selbstverortung, droht also irgendwann „offroad“ zu geraten.
„Wer nicht reflektiert, droht offroad zu geraten.“ d.lead
Umso erstaunlicher ist es, dass viele Führungskräfte in der zweiten Hälfte ihres Arbeitslebens, wenn sie es also geschafft haben, Führungskraft zu sein, immer noch die gleichen, zwischenzeitlich jedoch kontraproduktiven Handlungsstrategien anwenden.
Woran das liegt, hat der Führungsexperte Richard Barrett über viele Jahre anhand von Kulturbefragungen in Unternehmen untersucht.
Barrett hat der negativen Energie, die durch limitierende Werte und Verhaltensweisen wie Bürokratie, Hierarchie, Macht und Vorwürfe ausgelöst werden, den Namen Entropie gegeben. Entropie ist für ihn die Summe an Energie, die in unproduktive Arbeit investiert wird.
Persönliche Entropie von Führungskräften führt in Unternehmen zu kultureller Entropie. Sie ist ein Maßstab für Konflikte, Friktionen und Frustration, die in einem Unternehmen herrschen.
In seinem Grundsatzartikel „Fearless Leaders“ hat Barrett zusammengefasst, was ängstliche und angstfreie Führungskräfte unterscheidet:
1. Angstgesteuerte Führungskräfte mit hohen Entropiewerten
- fallen eher durch individuelle Werte, z.B. Detailorientierung oder Ehrgeiz auf.
- vereinen die toxische Mischung aus Zugänglichkeit und Ambitioniertheit: Zugänglichkeit wird oft mit Offenheit, Gesprächsbereitschaft und Freundlichkeit gleichgesetzt. Wenn diese Werte jedoch in Kombination potenziell limitierender Werte, wie kontrollierend, fordernd und autoritär, auftreten, wird es ein Mittel für hochentropische Führungskräfte, die ihre Macht ausnutzen, um Ansehen zu erlangen. Entropische Manager sind einfach zugänglich, weil sie viel Zeit damit verbringen, andere zu mikromanagen. Entropische Manager neigen dazu, alles zu kontrollieren. Sie wollen am liebsten bei allen E-Mails in CC gesetzt werden und sind selten mit den Ergebnissen ihres Teams zufrieden.
- fallen durch eine Mischung aus persönlichen Werten, die auf den ersten Blick positiv sind, auf, wie Engagement, Zielorientierung, Detailorientierung, analytische Fähigkeiten und Business- bzw. Branchenwissen. Der Fokus liegt auf der eigenen Leistung, nicht auf den Mitarbeitern. Da ist jemand sein bester Mitarbeiter.
- machen ihre raren – wenn überhaupt vorhandenen – Beziehungswerte durch potenziell limitierende Werte, wie Konfliktvermeidung, Kontrolle und fordernd sein zunichte.
- haben häufig hohe Werte in Bezug auf die eigene Leistungsstärke, was mit der Angst verknüpft ist, eventuell nicht gut genug zu sein.
2. Angstfreie Führungskräfte hingegen
- haben einen starken Fokus auf Beziehungswerte wie Feedback geben, fördern und entwickeln.
- fokussieren sich auf den Aufbau einer Mitarbeitergemeinschaft sowie strategischer Allianzen und Partnerschaften.
- sind offen für neue Ideen, bevorzugen kollaboratives Arbeiten und zeigen Begeisterung.
- bevorzugen einen inklusiven Führungsstil, der weithin als great leadership angesehen wird.
- verfügen über eine größere Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdbild. Sie kommen offenbar authentisch rüber, was wir gemeinhin unter „walk the talk“ verstehen.
- haben ihre Persönlichkeitsentwicklung abgeschlossen, und können sich daher der Kohärenz und dem Dienst einer höheren Sache widmen.
Fünf Werte sorgen dabei laut Barrett dafür, dass Führungskräfte ihr höchstes Potenzial entfalten: Kommunikationsfähigkeit, Mentoring, Teambuilding, Entwicklung anderer sowie strategisches Denken.
Es gehört zum persönlichen Reifungsprozess einer Führungskraft, der eigenen Ängste Herr zu werden. Erst dann kann sich eine Führungskraft mehr auf die Beziehungen zu anderen konzentrieren und Werte annehmen, die man gemeinhin erfolgreichen Führungskräften zuschreibt. Doch gerade den hochentropischen Führungskräften, die häufig den größten Schaden in der Kultur einer Organisation anrichten, ist das meist selbst nicht bewusst.
Persönlichkeitsentwicklung von Führungskräften heißt also, der eigenen Ängste Herr zu werden, damit verbundene Entropien abzubauen und somit eine gelingende Motivations- und Beziehungsarbeit in Unternehmen zu ermöglichen. Dann erst ist die Ebene der „Selbst-Transzendenz“, der Abkehr von der Konzentration auf sich selbst, die Viktor Frankl beschrieben hat, möglich. Erst dann können eine Transformation und die Fokussierung auf die Entwicklung anderer gelingen.
# Kultur isst Strategie zum Frühstück
Sich mit dem eigenen Inneren und dem Inneren anderer Menschen auf der Beziehungsebene zu befassen, und zwar nicht nur transaktional, z.B. in Form von Firmenevents oder Belohnungssystemen, sondern transformal im Sinne eines Abgleichs der jeweiligen Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen, ist deshalb schwieriger, da sowohl die Inputs als auch die Outputs solcher Prozesse deutlich schlechter messbar sind, als bei herkömmlichen Motivationsinstrumenten und Incentive-Systemen.
Und doch ist eine Kulturtransformation der Erfolgsfaktor einer jeden Change-Initiative. Das hat niemand schöner auf den Punkt gebracht als Peter Drucker, als er sagte: „Culture eats strategy for breakfast.“
„Culture eats strategy for breakfast.“ Peter Drucker
Was er damit sagen wollte ist: Eine Strategie ist nur dann gut, wenn es die Kultur im Unternehmen zulässt, dass diese auch umgesetzt wird. Übertragen auf die Digitalisierung bedeutet dies: So gut eine Digitalisierungsstrategie, ein Digitalkonzept auch immer aussehen mögen, wenn die kulturellen Voraussetzungen nicht stimmen und es im Hinblick auf anstehende Transformationsthemen deutlich differierende Interpretationsmuster in einem Unternehmen gibt, dann wird auch eine erfolgreiche Umsetzung dieser Transformationsthemen kaum gelingen können.
Die gute Nachricht: Kulturelle Voraussetzungen, institutionelle Routinen, ja sogar persönliche Sichtweisen, Wertemuster und mentale Modelle lassen sich verändern. Wenn man bereit ist, sich damit wirklich auseinanderzusetzen.
Manager, die solche Erkenntnis- und Veränderungsprozesse im Rahmen von Führungskräfteentwicklungsprogrammen und Coachings zulassen, werden nicht nur in ihrem eigenen Führungsverhalten deutlich besser. Sie produzieren auch die besseren Teamergebnisse und sie sind mit ihrer eigenen Arbeit zufriedener.
Auch außerhalb der Wirtschaft gibt es viele Beispiele dafür, wie derartige Ortsbestimmungen die Arbeitsresultate deutlich verbessern können. Nicht grundlos unterziehen sich beispielsweise selbst hocherfahrene Psychologen regelmäßig Supervisionen durch Kollegen, um ihre eigenen Interpretationen kritisch zu hinterfragen.
Auch Architekten sehen sich bei öffentlichen Ausschreibungen und bei Wettbewerben immer wieder der Situation gegenüber, dass sie ihre eigene Arbeit von einer Jury, in der neben ausgewiesenen Fachexperten auch Mitglieder konkurrierender Architekturbüros sitzen, beurteilen lassen müssen. Die Feedbacks, die sie dabei erhalten, sind ein wichtiger Maßstab für die Güte ihrer Arbeit und liefern wichtige Hinweise darauf, wo man sich als Architekturbüro gegebenenfalls weiterentwickeln muss.
Auch im Wissenschaftsbereich funktionieren moderne Peer Reviews so, dass man als Experte die eigenen Standpunkte und Forschungshintergründe klar darzulegen hat, um sie dann von anderen Experten bewerten zu lassen. So werden nicht nur subjektive Fehleinschätzungen verhindert. Die Wissenschaftler, die sich diesen „toughen“ Peer Reviews regelmäßig unterwerfen, können von den Feedbacks profitieren, da sie merken, wie anschlussfähig ihre eigenen Überlegungen an die Sichtweisen der restlichen Wissenschaftler-Community sind – oder eben auch nicht.
Last but not least ist es ja auch die Wirtschaft selbst, die im Hinblick auf konkrete Geschäfts-, Produkt- und Serviceideen immer häufiger sogenannte Konzepttests mit Early Adoptern durchführt, um frühzeitig Feedback über deren Marktfähigkeit zu erhalten.
Wir sehen keinen Grund, warum solche selbstkritischen Reflektionen in Zeiten hoher Unsicherheiten wie denen der Digitalisierung nicht auch für Führungskräfte ein geeignetes Mittel sein sollten. Auch hier kann man von kritischen Feedbacks von außen und daraus resultierenden Selbstreflektionen nur profitieren – vorausgesetzt, man ist grundsätzlich dafür offen und die Feedbackverfahren laufen nach einem fairen und transparenten Verfahren ab.